Schriftenreihe - Nr. 32
Bacharachs zornige Madonna - Wahrheit und Legende
Herausgeber: |
Dagmar Aversano-Schreiber |
Herausgeber und Verleger: |
Verein für die Geschichte der Stadt Bacharach und der Viertäler e. V. |
Druck: |
Print-Service Listl, 55422 Bingen-Büdesheim |
Erschienen |
2016 |
ISBN |
978-3-928022-18-7 |
Seiten |
128 |
Preis: |
5,50 EUR |
Inhaltsverzeichnis
Leseprobe
Wernerkult und Wernerkapelle
Im April 1287 wurde die Leiche des offensichtlich gewaltsam ums Leben gekommenen jugendlichen Tagelöhners Werner aus Womrath im Gestrüpp des Windsbachtals vor den Toren der Stadt entdeckt. Geheimnisvolle Lichter hätten auf ihn aufmerksam gemacht. Der Tote, von dem Wohlgerüche ausgegangen seien, wurde der Tradition gemäß drei Tage öffentlich aufgebahrt. Eine Zeugin behauptete gesehen zu haben, wie er von Juden in Oberwesel in deren Haus gefoltert und getötet worden sei. Der von ihr benachrichtigte Schultheiß habe nichts dagegen unternommen, sondern sich bestechen lassen. Man bestattete Werner in der alten Kunibertkapelle über Bacharach. Unmittelbar danach kam es zu zahlreichen Wunderheilungen an seinem Grabe, die am Beginn eines dauerhaften Kultes um den vorgeblich einem Ritualmord zum Opfer gefallenen Knaben standen. Parallel dazu folgten verheerende Pogrome in vielen Städten an Rhein und Mosel. Der Direktor des Historischen Museum am Strom in Bingen, Dr. Matthias Schmandt, hat überzeugend nachgewiesen, dass hinter all dem eine geschickte und rasch reagierende Regie stand, die er mit dem Pfarrer Heinrich von Crumbach verbindet. Schon 1144 hatte sich in England Vergleichbares ereignet. Der Benediktinermönch Thomas von Monmouth berichtet über den heiligen Märtyrer William von Norwich. Alter, angebliche Tötung durch Juden am Karfreitag, die Dienstmagd, die das Geschehen beobachtet, der nicht zu Ende ausgeführte Transport der Leiche durch die Mörder, Offenbarung als Heiliger, Fundort, Translation ins Kloster, Wunder, Heiligenkult, Bau der kleinen Kapelle St. Williams-in-the-wood (entsprechend in Bacharach das Kloster Fürstenthal im Windsbachtal) etc. dienten wohl als Vorlage für die späteren Ereignisse in Bacharach und Oberwesel.
Da in Bacharach zu der Zeit von Werners Tod aber keine Juden mehr lebten, verlegte man den Tatort nach Oberwesel. Die Täter hätten die Leiche auf dem Rhein nach Mainz bringen wollen, seien aber nur bis Bacharach gekommen, wo sie diese am Windsbach versteckten. Obwohl die Oberweseler in dieser Geschichte eigentlich nicht gut wegkamen - immerhin geschah in ihrer Stadt ein Mord und der korrupte Schultheiß ließ es ungestraft geschehen - und obwohl der Körper des Toten in Bacharach bestattet wurde, scheint es zu keinen Differenzen gekommen zu sein. Um 1300 wurde in Oberwesel an dem Ort, wo Werner sein Martyrium erlitten haben soll, ebenfalls eine Wernerkapelle errichtet, die wohl einst als Heilig-Geist-Kapelle mit dem dortigen Hospital in Verbindung stand. Den Handelnden blieb nach der Auffindung des Knaben nur wenig Zeit zur Ausführung all dessen, was danach erfolgte. Ist die Planung und Ausführung dieser scheinbar perfekten Dramaturgie innerhalb einer solch kurzen Zeitspanne eigentlich möglich? Sicher kannte Pfarrer Heinrich von Crumbach die Legende des William von Norwich. Er war aber schon Pfarrer in Bacharach, als im April 1283, also genau vier Jahre vor den Geschehnissen in Bacharach, in Mainz ein toter Junge gefunden und Ritualmord unterstellt worden war, was zur Folge hatte, dass die 26 in Bacharach lebenden Juden erschlagen wurden. Hat ihn das inspiriert? Darüber wird man nachdenken müssen.
Werner erfüllte de facto alle Voraussetzungen eines Heiligen. Auch auf dem Feld mit dem noch unentdeckten Leichnam des Jakobus zeigten sich Lichter, woraus sich der Wallfahrtsort Santiago de Compostela (lat.: campus stellarum) entwickelte. Wohlgeruch und fehlende Verwesung bei Verstorbenen galt als heilig, sie wurden als Anzeichen für das Paradies gedeutet. Geschahen am Grab Wunder, setzte die "Erhebung zu Ehre der Altäre" ein, die elevatio, die man in ihrer Wirkung als "Heiligsprechung" ansehen muss. Zunächst wurden die Knochen der Heiligen am Fuß des Altars, später in einem Schrein, der meist hinter dem Altar aufgestellt war, aufbewahrt. Als ein Beispiel von zahllosen sei der Kölner Heilige-Drei-Könige-Schrein genannt, der sich hinter dem Hauptaltar in der Chorspitze des Domes befindet. Die elevatio blieb aber nicht der maßgebliche Akt für die Heiligsprechung, schon bald wurde die Kanonisation durch den Papst entscheidend. Nicht mehr eine Liturgie, sondern ein juristisches Verfahren, in dessen Verlauf Lebensführung und Wunder anhand von Zeugen und Dokumenten überprüft wurden, führte zur Heiligsprechung. Die ältere Weise beruhte auf himmlischer Autorität. Gott oder der Heilige gaben durch Zeichen, Visionen und Wunder kund, dass eine Erhebung seiner Gebeine geboten sei. Spätestens im 12. Jh. lag diese Entscheidung im Kompetenzbereich der Menschen, insbesondere des Papstes. Dies führte zu einem Rückgang der Heiligsprechungen. So wurden zwischen 1198 und 1304 zwar 49 Prozesse geführt, aber nur 24 Personen kanonisiert. Damit wollte man wohl die expandierenden Lokalkulte eindämmen, was nur bedingt gelang, denn das Volk ließ sich seine Verehrung nicht nehmen und hielt an ihnen auch ohne päpstliche Approbation fest. Seit dem 13. Jh. unterschied man mehr und mehr in Heilige und Selige. Ursprünglich war der Kult ortsgebunden. Darüber hinaus gab es auch Länderpatrone, wie St. Patrick in Irland, der heilige Wenzel in Böhmen oder der Reichsheilige in Frankreich, St. Martin. Sie wachten gemäß göttlicher Ordnung über Länder, Städte und Menschen (patronus loci). Mit der Zeit kam es zu einer ortsüberschreitenden Verehrung. Der gemeinsame Heiligenkalender bewirkte, dass ihm oder ihr an jedem Ort gedacht werden konnte.
Der Todestag auf Erden ist der Tag der Geburt im Himmel. Das Grab ist die Kontaktstelle zwischen Himmel und Erde. Heilig ist nicht nur der Tote selbst, sondern alles, was er getragen oder berührt hat, ebenso der Schrein, in den er gebettet wurde. Deshalb half es, das Grab zu berühren oder darunter hindurch zu kriechen. Im gesamten Mittelalter waren viele Pilger unterwegs, um an den Gräbern der Heiligen zu beten, Buße zu tun oder eine Wunderheilung zu erbitten. Je näher man dem Heiligen kam, desto größer wurde dessen Wirkung. Ebenso bedeutsam wie eindrucksvoll war nach dem mühsamen Weg der Anblick des Heiligtums, hier konnten die ersten Gebete gesprochen werden. Daher war es von Vorteil, wenn der Ort der Verehrung topographisch günstig lag, so dass man auf ihn hinunter sehen konnte - oder besser noch - zu ihm hinauf, wie auf ein Höhenheiligtum der Antike, zu dem man demütig hinaufstieg, um schließlich die Schwelle zu überschreiten und endlich den Sehnsuchtsort zu betreten.
Das änderte sich erst im späten Mittelalter, nun standen weniger die Reliquien im Vordergrund, sondern Gnadenorte wie Lourdes, an denen wundertätige Bilder aufgefunden, Erscheinungen gesichtet und Mirakel bezeugt worden waren. Allein in Straßburg entstanden im 15. Jh. vierunddreißig neue Wallfahrtsorte.
Bis ins 10. Jh. durfte der Leib nicht geteilt werden, obwohl schon Victricius von Rouen (? 407 n. Chr.) sagte: "Ubi est aliquid ibi totum est", also, wo ein Teil ist, da ist das Ganze. Seit dem 11. Jh. hielt man sich nicht mehr an den Kodex der körperlichen Vollständigkeit und zerlegte die Heiligen regelrecht in ihre Einzelteile, da ein großer Bedarf an Reliquien bestand. Denn seit karolingischer Zeit verdichtete sich das Pfarrnetz und jede namhafte Siedlung erhielt eine eigene Kirche, die die Reliquien eines Heiligen benötigte. Da die Menschen im Tode nahe bei den Heiligen ruhen wollten, wurden die Friedhöfe - dich sich schon in der Antike außerhalb der Wohnsiedlung befunden hatten - nun in den unmittelbaren Bereich der Kirchen verlegt bzw. man bestattete die Toten gleich in der Kirche. Die Tendenz geht zu mehr Altären bzw. zu mehr Reliquien verschiedener Heiliger in einem Altar hin.
....